Welche politischen Begriffe und Zusammenhänge muss der Fernsehzuschauer kennen, um die "Tagesschau" zu verstehen?

   Abends um acht sitzt Deutschland vor dem Bildschirm und lässt sich die Welt erklären. Aber neun von zehn Zuschauern, das offenbaren Umfragen seit Jahren immer wieder, verstehen oft nicht, worum es geht.
 Liegt es an der angeblich zunehmenden "sprachlichen Verlotterung" der Nachrichtensendungen, die der ehemalige "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert beklagte: an schlecht formulierten Texten, Bandwurmsätzen oder Polit-Kauderwelsch? Vielleicht auch. Aber das würde nicht erklären, warum der Prozentsatz der Überforderten seit langem gleichbleibend hoch ist.
   Ursächlich für den fehlenden Durchblick ist wohl etwas anderes: Der breiten Mehrheit der "Tagesschau"-Konsumenten mangelt es einfach am Basiswissen über politische Begriffe und Zusammenhänge, um der wichtigsten Informationssendung des deutschen Fernsehens folgen zu können.
    Doch wie soll ein öffentlich-rechtlicher Sender seinen Bildungsauftrag erfüllen, wenn die Gebührenzahler das kleine Einmaleins der Politik nicht beherrschen?
  "Es würde die 15-minütige ,Tagesschau' überfordern, wenn sie sich wie die Volkshochschule der Nation aufführte", rechtfertigte sich Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell. "Ein gewisses Grundverständnis über politische Vorgänge müssen wir bei unseren Zuschauern schon voraussetzen." Gniffke nennt ein Beispiel: "Wir müssen die Bedeutung schwieriger Begriffe wie Bundesrat nicht täglich neu erklären."
   Recht hat er. Aber ist Bundesrat wirklich ein schwieriger Begriff? Wenn dieser Terminus nach Meinung der "Tagesschau"-Macher zum geistigen Grundstock des Publikums gehören muss, liegt dann die Messlatte niedrig oder hoch?
   Nehmen wir Bundesrat also als Maßstab dafür, was man über Politik wissen sollte. Es genügt freilich nicht, das Wort zu kennen. Man muss auch wissen, wie sich das Verfassungsorgan zusammensetzt, welche Aufgaben es hat, wie es funktioniert.
   Das oft gebrauchte, scheinbar erläuternde Synonym Länderkammer führt womöglich in die Irre, suggeriert es doch, dass in diesem Parlament gewählte Abgeordnete aus den Gliedstaaten der Bundesrepublik sitzen. Das ist aber mitnichten der Fall - hier debattieren vielmehr Vertreter der Landesregierungen.
   Wem das nicht klar ist, begreift beispielsweise nicht, warum es im Frühsommer eine so große Rolle spielte, dass SPD und Grüne in Nordrhein-Westfalen auch ohne parlamentarische Mehrheit eine Regierung bildeten. Solange die abgewählte CDU/FDP-Koalition im Amt blieb, bestimmte sie, wie ihre sechs Abgesandten im Bundesrat votierten.
Schon taucht das nächste Fragezeichen auf: NRW six points - ist das wie beim Eurovision Song Contest, wo jedes Land gleich viele Stimmen vergibt? Nein, im Bundesrat herrscht eine moderate Stimmengewichtung. Zwischen drei und sechs Stimmen hat jedes Land, was die unterschiedliche Bevölkerungsstärke aber nur tendenziell berücksichtigt: Das größte Bundesland, Nordrhein-Westfalen, hat 27-mal so viele Einwohner wie der kleine Stadtstaat Bremen, aber nur doppelt so viele Stimmen im Bundesrat.
   Auch wer mit dem Begriff Föderalismus nichts anfangen kann, sollte zumindest ein paar Zahlen, Daten, Fakten im Kopf haben, etwa dass die Bundesrepublik aus 16 Ländern besteht und wie deren Hauptstädte heißen.
 Um die Aufgabe des Bundesrats zu verstehen, muss man die Grundzüge des Gesetzgebungsverfahrens in Deutschland kennen. Beispielsweise: Wer kann Gesetze initiieren? Die Antwort gibt Artikel 76 des Grundgesetzes (so heißt unsere Verfassung): "Gesetzesvorlagen werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht."
  Im Zusammenhang mit dem Bundesrat ist oft von "zustimmungspflichtigen Gesetzen" die Rede. Es hilft also zu wissen, dass der Bundestag zwar Gesetze beschließen kann, der Bundesrat aber ein Mitspracherecht hat - auf zweierlei Art: Gesetze, mit denen zum Beispiel das Grundgesetz geändert wird oder die Auswirkungen auf die Steuereinnahmen der Länder haben, brauchen die mehrheitliche Zustimmung im Bundesrat. Alle übrigen können vom Bundesrat mit der Mehrheit seiner Mitglieder zwar zurückgewiesen werden, aber der Bundestag kann diesen Einspruch auch wieder überstimmen.
  "Die Abgrenzung zwischen beiden Bereichen ist außerordentlich komplex", räumt die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem "Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik" ein - weshalb es sicher übertrieben wäre, von Otto Normalbürger all diese Kenntnisse zu erwarten.
  Allerdings versteht der ohne eine ungefähre Vorstellung vom Wechselspiel der beiden parlamentarischen Kammern nicht die taktischen Winkelzüge der Bundesregierung, wenn sie Gesetze - etwa das "Sparpaket" zur Haushaltskonsolidierung oder die geplante Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken - in einen zustimmungspflichtigen und einen nicht zustimmungspflichtigen Teil aufspalten will.
  Da ist es gut zu wissen, dass es noch einen Vermittlungsausschuss gibt, der immer dann eingeschaltet wird, wenn ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz vom Bundesrat abgelehnt wird. Dass dieses Gremium aus 16 Vertretern des Bundestages und je einem der Länder besteht, dürfte nur Experten geläufig sein.
  Man muss nicht den Fachausdruck "personalisierte Verhältniswahl" kennen, es würde schon reichen, wenn man das Prinzip kapiert, wie die Sitzverteilung im Bundestag zustande kommt.
  Doch nur jeder Zweite, das stellt sich regelmäßig bei Umfragen heraus, kennt den Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme, weiß, dass die Zweitstimme entscheidend ist für die Zusammensetzung des Parlaments. Die anderen halten die Erststimme für die bedeutsamere, was sprachlogisch auch naheläge.
  Bei so verbreiteter Ahnungslosigkeit drängt sich die Frage auf, ob die Wahlergebnisse überhaupt den Wählerwillen abbilden oder ob sie nicht eher einer Art Lotterie entspringen.
Wer wählt den Bundeskanzler? Wetten, dass viele antworten würden: das Volk? Stimmt aber nicht, es ist der Bundestag. Das Parlament besteht aus Fraktionen, von denen - zurzeit - zwei eine Koalition bilden und die drei anderen in der Opposition stehen - nur wer die Begriffe kennt, durchschaut auch die verteilten Rollen auf der politischen Bühne.
  Das "konstruktive Misstrauensvotum" ist wohl eher etwas für Fortgeschrittene. Es kam ja in der Geschichte der Bundesrepublik auch erst zweimal vor und hat nur einmal geklappt - als der SPD-Kanzler Helmut Schmidt 1982 abgewählt wurde, indem der Bundestag einfach einen neuen Regierungschef, den Christdemokraten Helmut Kohl, kürte.
  Wer aber - Hand aufs Herz! - hätte vor Horst Köhlers Rücktritt und der Diskussion um seine Nachfolge gewusst, wie der Bundespräsident gewählt wird? Die Bundesversammlung und ihre Zusammensetzung sind abseits der Aktualität den allermeisten kein Begriff.
  Das deutsche Wappentier sollte jeder kennen. Wenn jedoch der Bundesadler auf einem Foto neben dem "Tagesschau"-Sprecher mit dem Stichwort "Bundeskabinett" erscheint, darf gerätselt werden: Handelt es sich a) um einen amtlichen Arbeitsraum, b) einen exquisiten fürstlichen Beraterkreis oder c) einen überregionalen Prädikatswein? Alles falsch, es ist nur eine andere Bezeichnung für die Bundesregierung.
  Was die Demokratie von einer Diktatur unterscheidet oder eine Republik von der Monarchie, sollte jedem geläufig sein. Angesichts der Diskussionen um die alternde Gesellschaft und schrumpfende Bevölkerungszahlen, Fachbegriff: demografischer Wandel, sollte man wohl Demografie und Demoskopie auseinanderhalten können. Und jeder sollte in der Lage sein, wenigstens einige der im Grundgesetz aufgeführten Grundrechte zu nennen.
Auch einige Jahreszahlen und Gedenktage gehören zum Kernbestandteil staatsbürgerlicher Reife: Wann wurde die Bundesrepublik gegründet? Wann wurde die Berliner Mauer gebaut, und wann fiel sie? Was geschah am 17. Juni 1953 oder am 3. Oktober 1990?
  Dass sich die Demokratie durch Gewaltenteilung auszeichnet, also die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative, zählt ebenfalls zum Basiswissen Politik. Dass das höchste deutsche Gericht das Amtsgericht in Titisee-Neustadt - 849 Meter über dem Meeresspiegel - sei, behaupten nur Kalauer-Liebhaber; es ist natürlich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
 Solche Fragen werden, wie viele andere der hier erwähnten Beispiele, auch bei Einbürgerungstests für Ausländer gestellt. So viel, mindestens, sollte doch auch der eingeborene Deutsche wissen.
 Das Fremdwort Migration ist mittlerweile so gebräuchlich wie der deutsche Ausdruck Zuwanderung. Vorteilhaft wäre eine ungefähre Vorstellung vom Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung: Fast neun Prozent der Einwohner Deutschlands haben einen ausländischen Pass, und gut noch mal so viele sind Deutsche mit Migrationshintergrund, womit alle seit 1950 in die Bundesrepublik zugewanderten Personen und deren Nachkommen gemeint sind.
 Obwohl die nationale Politik immer stärker von europäischen oder gar globalen Institutionen mitbestimmt wird, hält sich der Durchblick in länderübergreifende Beziehungen in eher engen Grenzen. Die neue Heimat Europa? Sie ist eine Terra incognita.
Die Europäische Union mit ihren komplizierten Regeln und ihrer aufgeblähten Bürokratie macht es dem Bürger auch nicht gerade einfach. Da wird der Lissabon-Vertrag von seinen Erfindern als Ersatz für die bislang nicht zustande gekommene europäische Verfassung gepriesen, obwohl er weder hinreichend Demokratie noch Transparenz schafft.
  Eine EU-Regierung mit 27 Kommissaren empfindet nicht nur Altkanzler Helmut Schmidt als "Aberwitz". Und die repräsentativen Spitzenämter - der ständige Ratspräsident und die Hohe Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik - wurden im Klüngel-Kompromiss der nationalen Regierungschefs mit sicher honorigen Menschen besetzt, deren Namen sich der Durchschnittsbürger wohl nicht merken wird.
  Trotzdem wäre es in Zeiten von Finanz- und Euro-Krise hilfreich, zumindest in Umrissen die Bedeutung der "Konvergenzkriterien" des "Stabilitäts- und Wachstumspakts" zu kennen. Es geht dabei um Höchstgrenzen für Inflationsraten, Haushaltsdefizite und Wechselkursschwankungen, wie sie im Maastricht-Vertrag festgelegt sind - auch ein gängiges, aber selten erläutertes Schlagwort.
  Die wichtigsten internationalen Organisationen sollte der "Tagesschau"-Kunde immerhin kennen. Was ist die Uno? Wo hat sie ihren Sitz? Wie viele Staaten gehören ihr an? (derzeit 192). Was ist der Sicherheitsrat? Was ist die Nato? Wo ist deren Zentrale?
   Vor allem das Militär pflegt einen ausgeprägten Abkürzungsfimmel. Aber muss deshalb die "Tagesschau" - wie viele andere Medien - unbesonnen "Isaf" oder "Sfor" nachplappern?
Das englische Kürzel Isaf muss man nicht buchstabieren können, deshalb sollte es als "Nato-geführte internationale Schutztruppe" in Afghanistan erklärt werden. Das Gleiche gilt für Sfor, die ehemaligen "Nato-Stabilisierungsstreitkräfte" in Bosnien und Herzegowina.
  Erklärungsbedürftig ist auch das "Nahost-Quartett". Dabei handelt es sich weder um ein Kartenspiel noch um ein Musikstück, sondern um Vermittler aus den USA, Russland, der Uno und der EU.
  Immer wieder wird von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berichtet, so etwa vor kurzem über das Verbot der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung. Zehntausend Urteile fällt dieses Gericht jedes Jahr - aber irrigerweise wird das Tribunal meist für eine Institution der Europäischen Union gehalten. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Einrichtung des Europarats in Straßburg und darf nicht verwechselt werden mit dem Europäischen Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in Luxemburg oder dem Internationalen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag.
  Was aber, verdammt noch mal, ist der Europarat? Was unterscheidet ihn (eine 47 Staaten einschließlich Russland und die Türkei umfassende Organisation zur Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit) vom Europäischen Rat (das sind die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten) und vom Rat der Europäischen Union (das sind die Fachminister der Mitgliedsstaaten)? Europäische Union und Europarat sind zwei völlig verschiedene Institutionen, verwenden aber dieselbe Fahne (Sternenkranz auf blauem Grund) und dieselbe Hymne (Beethovens Neunte).
  Längst muss jeder, über Europa hinaus, die ganze Welt im Blick haben. Globale Probleme erfordern globale Lösungen, und darum kümmern sich globale Gremien, beispielsweise G 8 (die Gruppe der sieben reichsten Industriestaaten und Russland) oder G 20 (das sind die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer - was wiederum voraussetzt, dass man sich unter dem Begriff Schwellenländer etwas vorstellen kann).
  Derlei Technokraten-Kürzel muss der politisch mündige Bürger wohl ebenso beherrschen wie die Kerninhalte internationaler Vereinbarungen, die oft einfach nach ihrem Entstehungsort benannt werden. Das Kyoto-Protokoll beispielsweise, jenes wegweisende Klimaschutzabkommen aus dem Jahr 1997, sollte niemand für Benimmregeln am japanischen Kaiserhof halten.
  Immerhin gelten die Deutschen nach einer aktuellen Studie der OECD - das ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - als die eifrigsten Zeitungsleser: 70 Prozent nennen die Zeitung als tägliche Lektüre, das tun nur 44 Prozent der Franzosen und 33 Prozent der Briten. Leider sagt die Umfrage nichts darüber, ob deutsche Zeitungsleser auch politische Artikel beachten oder nur den Sportteil studieren.
 Dass Englisch als Weltsprache politische Fachbegriffe (etwa "roadmap" = politischer Handlungsplan) dominiert, ist wohl unvermeidlich. Der "Tagesschau"-Konsument darf aber füglich eine Erläuterung erwarten.
  Eher unter Wickerts Rubrik "sprachliche Verlotterung" fallen gedankenlos übernommene Anglizismen, die manchmal auch durch die "Tagesschau" wabern: etwa die amerikanische Administration (für Regierung), die Kampagne (im Sinne von Wahlkampf) oder die Westbank (kein Kreditinstitut, sondern die englische Bezeichnung für das palästinensische Westjordanland).
 Der Praxistest erweist, dass die intellektuellen Ansprüche der "Tagesschau" an ihre Zuschauer nicht übertrieben hoch sind - mag es auch etwas elitär klingen, wenn Ulrich Deppendorf, der Chef des ARD-Hauptstadtstudios, seine Sendeanstalt einmal als "Informationstempel" bezeichnete.

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